Polyvagaltheorie und Traumatherapie

Pflanze symbolisiert die drei Vagusphade

Das Autonome Nervensystem beeinflusst unser Erleben, unsere Überzeugungen, Verhaltensweisen und Körperreaktionen

Wie überaus befreiend kann es dann für Betroffene, mit Regulationsschwierigkeiten und deren Auswirkungen auf das globale Leben sein, trotz der Autonomie des Systems, Einfluss auf seine Reaktionen nehmen zu können, Regulationsstrategien für das eigene Wohl zu erlernen, also Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln zu können.

 

Polyvagal bedeutet mehrere Vaguspfade 

Vagus > schweifend > schweifender Nerv

Das Autonome Nervensystem

Distel symbolisiert die Autonomie des Nervensystems

Das Autonome Nervensystem ist ein Teil unseres Nervensystems, welches autonom arbeitet, also unterhalb der Schwelle unseres Bewusstseins. Es reguliert unter anderem unseren Herzschlag, die Atmung, unsere Körpertemperatur und unsere Verdauung

Bisherige Modelle gingen von zwei Gegenspielern im Autonomen Nervensystem aus, dem Sympathikus und dem Parasympathikus. 

Stephen W. Porges entwickelte über die Erforschung der Herzratenvariabilität die Polyvagaltheorie.

Hierbei unterteilt er das Autonome Nervensystem in drei Subsysteme. Zum einen, das sympathische Nervensystem, zum anderen, das Parasympathische Nervensystem mit seinen zwei großen Hauptästen, dem dorsalen Vagusast und dem ventralen Vagusast

Vor ihm erkannten bereits andere Forscher und Therapeuten, z. Bsp. Peter Levine, dass es noch eine weitere parasympathische Aktivität gab. 

So beobachteten sie nicht nur Zustände von Entspannung, Ruhe und Erholung, sondern auch Zustände von Entsetzten und Erstarrung. Dieses Phänomen war einige Zeit unter dem Begriff Vagus-Paradox bekannt. 

Mit der Polyvagaltheorie ist es Stephen W. Porges gelungen, vorangehende Modelle zum autonomen Nervensystem zu integrieren und unter anderem das Vagus Paradox zu erklären und neu zu beschreiben. 

 

Entwicklung des autonomen Nervensystems im Mutterleib

Baumstämme symbolisieren die Entwicklung im Mutterleib

Entwicklung des Autonomen Nervensystems im Mutterleib

Zuerst werden der dorsal-vagale Pfad (nicht myelinisiert) und das sympathische System funktionsfähig. Der ventral-vagale Pfad entwickelt sich erst im letzten Schwangerschaftsdrittel und wird erst im Laufe des ersten Lebensjahres mit einer Myelinschicht umschlossen.

 

 

Schematische Darstellung des Autonomen Nervensystems nach der Polyvagaltheorie

Pflanze symbolisiert das dorsal-vagalen System
Schematische Darstellung des Nervensystem nach der Polyvagaltheorie

Entwicklung des Autonomen Nervensystems Evolutionsbiologisch

Pflanze symbolisiert das sympathische System

Dorsal-vagales System

Das am frühesten entstandene dorsal-vagale System beeinflusst unter dem Zwerchfell liegende Organe, z. Bsp. das Verdauungssystem. 

Sympathisches System

Das als nächstes entstandene Sympathische Nervensystem steuert den Blutkreislauf, den Herzrhythmus, reguliert die Körpertemperatur, reagiert auf Haltungsveränderungen und stellt Energie zur Verfügung.

Ventral-vagales System

Das zuletzt entstandene ventral-vagale System erschließt die Fähigkeit zu sozialer Verbundenheit. Der ventrale Vaguszweig beeinflusst hauptsächlich die Organe oberhalb des Zwerchfells.

Der dorsale und ventrale Vaguspfad übermitteln Botschaften in zwei Richtungen. Hierbei gelangen sensorische Informationen aus dem Körper ins Gehirn und motorische Informationen vom Gehirn in den Körper.

Kernaussagen zur Polyvagaltheorie

Pflanze symbolisiert das ventral-vagale System

Die Polyvagaltheorie beschreibt die Verbindung zwischen autonomem Zustand und dem Verhalten des Individuums

Sie unterteilt das Autonome Nervensystem entwicklungsgeschichtlich und hierarchisch in drei unwillkürlich agierende autonome Subsysteme, dem für Sicherheit und Entspannung, dem Anteil für Flucht und Kampf (Gefahr) und dem für Erstarren und Unterwerfung (Lebensgefahr). 

Diese Subsysteme sind wiederum mit einem bestimmten Verhalten verbunden. So ist der ventral-vagale Anteil des Vagus mit der sozialen Kommunikation, wie der Mimik, der Vokalisierung und dem Zuhören, also dem sicheren und entspannten Zustand verbunden. Der sympathische Ast des Vagus kann mit der Mobilisierung, zu Kampf oder Flucht, assoziiert werden. Der dorsal-vagale Ast des Vagus gehört zum Defensivsystem mit Immobilisierung, wie Ohnmacht, Shutdown und Dissoziation. Hierbei hemmen jüngere neuronale Schaltkreise die Funktion älterer. 

Die Polyvagaltheorie basiert auf der Entwicklungsgeschichte des Autonomen Nervensystems. Mit dem Entwicklungsübergang von den Reptilien zu den Säugetieren kam es zu einer wichtigen Veränderung im Autonomen Nervensystem. Während es für Reptilien nur die Möglichkeiten zu Kampf oder Flucht und die des Erstarrens gab, war es für Säugetiere wichtig in Bindung zu gehen, soziale Beziehungen zu führen und einander zu beschützen. Es entstand ein neuer Zweig im Autonomen Nervensystem, der ventral-vagale Pfad, das auf die älteren Anteile einwirken und sie regulieren kann. Säugetiere nutzen also höher entwickelte neuronale Strukturen, um den älteren Teilen des autonomen Nervensystems, das sympathische und dorsal-vagale System, zu signalisieren, dass sie nicht in eine Defensivreaktion verfallen brauchen und sich stattdessen der Förderung von Gesundheit, Entwicklung und Genesung widmen können. 

Grundlage unseres Seins und aller unserer Aktivitäten ist unsere biologisch angelegte Suche nach Sicherheit, um uns Artgenossen zu nähern, in den Kontakt mit ihnen gehen zu können und auf eine natürliche Weise Bindung entstehen zu lassen. 

 

 

Die autonome hierarchische Neurozeption nach der Polyvagaltheorie

Grafik stellt autonome hierarchische Neurozeption nach der Polyvagaltheorie dar

Mit dem Begriff Neurozeption (unbewusstes Wahrnehmen) (Perzeption > Wahrnehmung) beschreibt Porges die neurologische Registrierung von Anzeichen innerhalb und außerhalb unseres Körpers, die auf autonomer Ebene unterhalb der Bewusstseinsschwelle, und ohne kognitive Deutung, stattfindet. Das Autonome Nervensystem schätzt die Umgebung schon ein und initiiert eine adaptive Überlebensreaktion, noch bevor das Gehirn einem Vorfall einen Sinn zuschreibt. Was das autonome Nervensystem als sicher oder unsicher erkennt, hängt von den individuell gemachten Erfahrungen ab. (Trigger)

Es gilt anzuerkennen und wertzuschätzen, dass jede menschliche Reaktion eine adaptive Handlung im Dienste der Sicherheit und des Überlebens ist, auch wenn der heutige Kontext nicht immer auf den ersten Blick nachzuvollziehen und zu ergründen ist. 

Die ventral-vagale Neurozeption 

Pflanze stellt die Vagussysteme dar

Im Zustand der ventral-vagalen Neurozeption können wir Freude, Gegenwärtigkeit, geerdet sein, Neugier und Offenheit, Mitgefühl und Aufmerksamkeit empfinden und wahrnehmen. Diese Zustände unterstützten unter anderem die Fähigkeit zu Lernen, Kommunikation, Wahrnehmung, Spielen, Freude und Kreativität.

Defensivreaktionen wie die sympathische und dorsal-vagale Neurozeption werden gehemmt.

Parasympathische Funktionen, wie die Verdauungsmobilität, die Infekt- und Immunabwehr, Ruhe und Erholung, die Durchblutung der nicht lebensnotwendigen Körperregionen, die Oxytocin-Ausschüttung und die Fähigkeit in Bindung gehen zu können, werden gefördert.

Die sympathische Neurozeption

Pflanze stellt die Vagussysteme dar

Schätzt das Autonome Nervensystem eine Situation als bedrohlich oder gefährlich ein, lässt die hemmende Wirkung der dorsal-vagalen Neurozeption nach und das sympathische Nervensystem wird aktiviert. Dies kann zum einen in die Richtung Kampf (Zuwendung zur Gefahrenquelle) oder auch in Richtung Flucht (Abkehr von der Gefahrenquelle) gerichtet sein. Mit der Kampfreaktion verbundene mögliche Gefühle können Wut, Ärger, Irritation und Frustration sein. Mit der Fluchtreaktion verbundene Gefühle können Beunruhigung und Sorge, Furcht, Angst und Panik sein. 

Auf der körperlichen Ebene wird Adrenalin ausgeschüttet. Dadurch kommt es zur Steigerung von Herzfrequenz und Blutdruck, die Pupillen weiten sich und es wird Energie für die schnelle Reaktion bereitgestellt. Durch die Adrenalinausschüttung kommt es ebenso zu einem erhöhten Cortisolspiegel. Der Insulinspiegel erhöht sich, die Energiereserven erschöpften sich schnell, die Verdauungstätigkeit ist vermindert und die Immunabwehr ist herabgesetzt.

Die Dorsal-vagale Neurozeption

Pflanze mit Blüte symbolisiert die Herzratenvariabilität

Wird eine Situation als lebensgefährlich oder ausweglos eingeschätzt aktiviert sich die dorsal-vagale Neurozeption. Hiermit verbundene mögliche Empfindungen oder Bewältigungsstrategien können Dissoziation, Taubheit, Depression, Einfrieren, Scham, Hilflosigkeit, Todesangst bzw. Vorbereitung auf den Tod und Hoffnungslosigkeit sein. 

Der Muskeltonus nimmt ab, der Körper erschlafft, der Blutdruck, die Herzfrequenz, Atmung und Körpertemperatur sinken, ausgeschüttete Endorphine sorgen für eine Analgesie, Fähigkeiten zur sozialen Interaktion wie Blickkontakt, das Bewusstsein für die menschliche Stimme und Mimik sind herabgesetzt, die Immunabwehr, das Sozial- und Sexualverhalten sind beeinträchtigt.

Bei Betrachtung der verschiedenen autonomen Zustände und Regulationsmechanismen der Neurozeption, wird das Ausmaß an möglichen Beeinträchtigungen in allen Bereichen des Lebens deutlich. Alle autonomen Zustände stellen Reaktionsstrategien für das Überleben in der jeweiligen Situation dar, verdeutlichen aber auch, dass sich einst angemessenen genutzte Überlebensstrategien maladaptiv und global auf das weitere Leben auswirken können.

Die Fähigkeit des Autonomen Nervensystems flexibel zwischen der sympathischen-, also Aktivierung und Mobilisierung und ventral-vagalen Reaktion, also Ruhe und Entspannung, zu pendeln, steht für Regulationskompetenzen und zuletzt für Gesundheit

mehrere Blüten symbolisieren die Übungsschritte

Herzratenvariabilität

Distelblüte symbolisiert Listening Project

Die Herzratenvariabilität (HRV) gibt die Aktivität des ventralen Vagus an. Für die HRV ist die Zeitspanne zwischen zwei Herzschlägen ausschlaggebend. Dass eine betreffende Person ein flexibles Nervensystem hat, also mit den Anforderungen des Alltagslebens gut zurechtkommt, zeigt sich in einer starken Variabilität, also einem aktiven ventralen Vagus. 

Co-Regulation

Kaktus mit Blüte symbolisiert Co-Regulation

Für unser Überleben ist das Gefühl von Verbundenheit unverzichtbar. Durch Co-Regulation treten wir zu anderen in Verbindung und lassen mit ihnen gemeinsam ein Gefühl der Sicherheit entstehen. Unser Autonomes Nervensystem sendet Signale der Verbundenheit aus und wartet auf die Beantwortung durch die Peergroup. Schon das Gefühl sozial isoliert zu sein beeinträchtigt unsere Fähigkeit, uns selbst zu regulieren und wirkt sich auf unser emotionales und körperliches Wohlbefinden aus. Mögliche Folgen von sozialer Isolierung können kardiovaskuläre Erkrankungen, kognitive Funktionsstörungen, Depressionen, Schlafstörungen und übermäßig starke Entzündungsreaktionen sein. Die Fähigkeit zur Selbstregulation basiert auf wiederholt erlebter Co-Regulation. Sich wiederholende Fehleinstimmungen und Beziehungsabbrüche, welche nicht repariert werden, haben zur Folge, dass das Autonome Nervensystem von einem Erleben anhaltender Gefahr bestimmt wird und in Mustern der Schutzsuche verharrt.

Das Safe and Sound Protocol

Pflanze mit Blüte symbolisiert die Formung des Nervensystems

Bei dem Safe and Sound Protocol (SSP) geht es um akustische Stimulation, also um Zuhören. Über Ohrumschließende Kopfhörer wird Vokalmusik, welche die prosodischen Merkmale der menschlichen Stimme hervorhebt abgespielt. 

Wenn Mütter mit ihren Kindern interagieren, finden sich in ihren Stimmen vorwiegend mittlere Frequenzen, die prosodische Stimmlage (Stimmlage der Mutter). Dies aktiviert im Nervensystem den Zustand, der mit Sicherheit und Verbundenheit assoziiert wird. 

Über das so entstehende Training der Mittelohrmuskulatur verbessert sich die Regulationsfähigkeit und Resilienz.

Formung des Nervensystems

Blüte symbolisiert die Übung den Glimmer finden

Die von vielen Menschen, durch die gewohnheitsmäßigen und geprägten Reaktionen, als destruktiv wahrgenommene Kraft des autonomen Nervensystems kann auch genutzt, wieder umgeschrieben und flexibler gemacht werden. 

Gezielte Übungen helfen Betroffenen Fertigkeiten zur Selbstregulation zu entwickeln und dadurch ihre Resilienz, Reaktionsflexibilität und Selbstwirksamkeit zu verändern und zu verbessern. 

 

Den Glimmer finden

Diese Übung lädt ein aktiv nach Mikromomenten der Regulation Ausschau zu halten. Dies können ein Lächeln, eine schöne Beobachtung, ein freundliches Gesicht und vieles mehr sein.  Unser Alltagsleben wird durchzogen von Momenten des ventral-vagalen Erlebens, sie bleiben aber oft unbemerkt. Die gezielte Suche nach ihnen, führt zu einer neuen Qualität des autonomen Gewahrseins. Die Erwartungen, die das tägliche Erleben betreffen, werden in Hinblick auf die Wahrnehmung positiver guttuender Ereignisse, verändert. Dies ist ein wichtiger Schritt bei der Umgestaltung des Autonomen Systems. Den Glimmer erkennen, inne zu halten, um ihn in sich aufzunehmen und anschließend nach weiterem Glimmer Ausschau zu halten. 

 

Übungsschritte:

  1. Nimm dir vor, jeden Tag nach einer bestimmten Anzahl von Glimmern Ausschau zu halten. 
  2. Achte darauf, dass du einen Funken ventral-vagaler Energie spürst.
  3. Halte inne, wenn du den Glimmer erkennst. Du kannst die Aufmerksamkeit auf den betreffenden Augenblick fokussieren, indem du „Glimmer“ sagst oder den Moment durch eine Bewegung markierst, zum Beispiel die Hand auf dein Herz hälst.
  4. Du kannst die Entdeckung deines Glimmers in einem Büchlein notieren.
  5. Halte nach Glimmern an bestimmten Orten, in Gegenwart bestimmter Menschen und zu bestimmten Zeiten Ausschau. Stelle fest, wann und wo deine Glimmer immer wieder auftauchen.
  6. Sprich über deine Glimmer. (Mit der Familie, Freunden, Therapeuten)

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